Lost Places - Sperrzone von Tschernobyl

Pripjat, Sperrzone von Tschernobyl und andere verlassene Orte

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Pripjats Frachthafen

Pripjats Frachthafen

Dies ist keine gewöhnliche Reportage geworden. Sie besteht aus zwei völlig verschiedenen Inhalten, von zwei völlig verschiedenen Menschen geschrieben, die unterschiedlich alt sind und aus verschiedenen ukrainischen Städten stammen. Sie kennen sich ausschließlich aus dem Forum „pripyat.com“. Jewhenij Samojlow und ich, Yevgen Goncharenko.

 

 

Ganz ehrlich: Meinen Teil der Reportage hätte es unter Umständen gar nicht gegeben... Nachdem Jewhenij (von meinen Fotos begeistert :)) mir seine Erinnerungen über die Zeit der Aufräumarbeiten am Frachthafen in Pripjat schriftlich zukommen ließ, gab ich bald auf (Ihr wißt vielleicht schon von anderen Artikeln, wie gut er schreiben kann). Was sind meine Kommentare im Vergleich zu einer echten Geschichte eines echten Liquidators? Also beschloß ich, seine Memoiren mit meinen Fotos, aber ohne meine zusätzlichen Anmerkungen zu versehen. Als ich jedoch anfing, die Fotos zu sortieren, fand ich ein paar interessante Aufnahmen, die ich auf dem Weg zum Hafen gemacht habe. Sie paßten weder zum Thema „Frachthafen“ noch zu den Erinnerungen von Jewhenij. Eine einzelne Reportage nur darüber zu machen fand ich auch nicht ganz passend und so beschloß ich, im ersten Teil, über den Weg zum Frachthafen, selber zu berichten und dann vor Ort das Wort dem Liquidator Jewhenij Samojlow zu überlassen.

Pripjat. Frachthafen
  • Teil I
  • Der Weg zum Hafen (Yevgen (KRANZ) Goncharenko)

Es ist der 28. Oktober, einer der letzten warmen Tage. Die Farbe des Himmels verändert sich kontinuierlich: Mal sommerlich tiefblau, mal silbergrau – wie im tiefen Winter. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, als ob jeden Augenblick ein für den Herbst üblicher Dauerregen aufziehen würde. Doch „oben“ wurde darüber anders entschieden; die Wolken verzogen sich, die Sonne kam durch und es wurde sogar richtig warm. Jura, Sascha, Max und Wadym waren mit ihren Gruppen in Pripjat unterwegs, und Olja Romanzowa und ich versuchten entlang des Ufers zum Frachthafen zu kommen. Man sieht ihn in Pripjat, von der Passagier–Anlegestelle aus, in etwa zwei Kilometer Entfernung in westlicher Richtung. Die Hafenkräne sehen wie riesige erstarrte eiserne Pelikane aus. Wir kommen am Krankenhaus (MSTsch–126) vorbei, lassen die Wasserwacht hinter uns und passieren die Garagen. Die Straße macht einen Knick nach rechts zum Friedhof von Pripjat. Wir gehen einen Feldweg entlang und versuchen, in der Nähe des Ufers zu bleiben. Die Gammastrahlung liegt hier etwa zwischen 2 und 3 mR/h, was für diese Gegend nicht ungewöhnlich ist. Kurz vor den dicken Warmwasserrohren, die, um die Durchfahrt für Autos zu ermöglichen, einen Bogen über die Straße machen, finden wir einen im Durchmesser etwa 10 m großen Fleck, auf dem die Strahlungswerte bis 10 mR/h ansteigen. Hier ist auch schon die erste kleine Entdeckung unserer Reise: noch eine Garagenreihe (um Klarheit zu schaffen, nenne ich sie die „Zweiten“ oder die „Weitergelegenen“). Diese hier sind nicht so aufwendig gebaut wie die Ersten – es sind einfache Blechkästen. Solche gibt es in jeder Stadt der ehemaligen Sowjetunion. Das, was vor den weit geöffneten Toren der Blechboxen lag, war für uns die zweite Entdeckung:

Pripjat. Garagen Pripjat. Garagen Pripjat. Garagen

Klumpen völlig deformierten Metalls, die einst Lada- oder Moskwitsch-PKWs waren und jetzt nur noch anhand weniger Details der jeweiligen Automarke zugeordnet werden können. Ich erinnere mich, daß wir auf dem Weg zum Friedhof von Pripjat schon einmal so ein Haufen verrosteten Blechs, mit einem Moskwitsch-Scheinwerfer daran, bei den ersten Garagen gesehen haben. Damals dachte ich mir, das sei das Resultat eines schrecklichen Autounfalls gewesen und der Besitzer habe das Wrack in die Garage gebracht, um noch ein paar intakte Ersatzteile abzuschrauben. Jedoch das, was wir bei der zweiten Garagenreihe sahen, ließ darüber gewisse Zweifel aufkommen. Ähnliche Metallhaufen lagen hier fast vor jeder Garage. Ich glaube nicht, daß 1986 in Pripjat eine Massenkarambolage passiert war, in die alle privaten Fahrzeuge verwickelt gewesen waren.

Pripjat. Garagen Pripjat. Garagen Pripjat. Garagen

Es gab eine ganz andere Ursache (die Jungs von Tschornobyl Interinform bestätigten es später auch): Das sind die Folgen von Maßnahmen im Kampf gegen die Plünderer. Es ist bekannt, daß der private Fahrzeugbestand der Bewohner von Pripjat komplett vom Staat aufgekauft worden war. Damit die Diebe erst gar nicht auf den Gedanken kamen, die Autos, oder auch nur Teile davon, zu stehlen, wurden sie allesamt unbrauchbar gemacht. Ich weiß nicht, womit die Liquidatoren sie plattmachten – mit den IMR Räumungskettenfahrzeugen, Panzern oder einfach mit den Planierraupen – jedenfalls ist der Beweis dafür ziemlich eindeutig. Man hätte hier vielleicht noch die eine oder andere heile Mutter finden können, aber wirklich nicht mehr als das. Die Strahlung ist in den Garagen etwas höher als außerhalb und liegt bei etwa 3–4 mR/h. Am Straßenrand, neben einem Haufen Müll, steigt sie sogar bis 5 mR/h. Wir kommen an eine asphaltierte Straße – links liegt Pripjat, rechts befindet sich das AKW. Geradeaus vor uns: Pripjats Frachthafen.

Weiter erzählt Jewhenij Samojlow:

  • Teil II
  • Der stille Hafen (Jewhenij Samojlow)
Pripjat. Frachthafen

Ich betrachte das Foto eines alten Friedhofs auf meinem Bildschirm: Eichenkreuze, umgeben von verwelktem Gras... Ein merkwürdiges Schicksal hat dieser Friedhof – er wurde zweimal von Menschen verlassen! Beim ersten Mal wurden die Dorfbewohner umgesiedelt und das Dorf abgerissen. Beim zweiten Mal verließen ihn die Menschen bei der Evakuierung der 30–Kilometer–Zone. Die Ursache dafür war beide Male das Atomkraftwerk Tschornobyl.
Das Dorf trug den Namen „Podlesnoje“...
Ein einfacher Dorffriedhof weckte in meiner Erinnerung zwanzig Jahre alte Emotionen:

Pripjat. Frachthafen

Es ist der 24. Mai 1986. Ich, ein junger Leutnant, fahre zum ersten Mal in die Zone.
Pripjats erste Häuser ziehen an uns vorbei. Unsere Kolonne fährt rechts in Richtung Busbahnhof, umrundet ein großes Blumenbeet und durchfährt eine gewöhnliche Industrielandschaft, wie es sie in jeder Stadt gibt: Fahrwege und Mauern aus Beton, verstaubte Bepflanzung am Straßenrand. Das einzig Ungewöhnliche: Alles um uns herum ist radioaktiv verseucht! Am Blumenbeet steigt der Zeiger meines DP–5-Radiometers von 200 mR/h auf 1–2 R/h. Wir passieren den Bahnübergang und fahren unter der Rohrleitung durch. Auf der rechten Seite liegt Pripjats Friedhof. Die Obelisken aus Edelstahl glänzen in der strahlenden Sonne. Die einfachen Kreuze über den Gräbern trotzen dem mit 10 Röntgen pro Stunde!

Pripjat. Frachthafen

Wir nähern uns einer Abzweigung. Gott sei Dank! Der Zeiger bewegt sich nach links. Am Straßenrand sehe ich die gelben Metallschilder. Das war die Arbeit von Tolik Tschalyj und seiner Truppe in den ersten Maitagen: Als erstes untersuchte und säuberte er die Route zwischen Pripjat und der Eisenbahnbrücke. Bei unserem gestrigen Gespräch bemitleidete er mich: „Eine verdammt gefährliche Gegend – dort, wo du hinfährst. Sei vorsichtig! Da kannst du schnell in Schwierigkeiten geraten“. Das machte mich für mein erstes Mal kein bißchen optimistischer. Ich hatte jetzt schon ein wenig Bange. Für Angst blieb mir jedoch keine Zeit mehr...

Plötzlich taucht auf der rechten Seite im bläulichen Morgenhimmel der riesige Betonklotz des Atomkraftwerks über dem Waldrand auf. Der erste, zweite, dritte und die Ruine des zerstörten vierten Blocks. Von allen ist dieser der nächstgelegentste – nicht weit von hier, etwa 2 Kilometer. Wir biegen links ab. Der Zeiger springt zwischen 1 und 5 R/h hin und her. Hier gibt es einfach keine Logik was die Strahlung angeht. Es ist unmöglich, ihre Intensität vorherzusagen. Wie auch, wenn es einen Meter über der angeblichen Quelle oftmals stärker strahlt (manchmal sogar um ein Mehrfaches) als direkt daneben!

Pripjat. Frachthafen
Pripjat. Frachthafen

Damals bemerkte ich die merkwürdige Unregelmäßigkeit des radioaktiven Fallouts: Auch wenn es paradox klingt, so hatten die Bewohner von Pripjat Glück im Unglück gehabt: Beide radioaktive Wolken aus dem Reaktor zogen in etwa einem Kilometer Entfernung an den Wohnvierteln vorbei. Als ob jemand seine Hand darüber gehalten hatte, um den Schaden für die Personen, die sich in der Stadt aufhielten, zu mildern.

Links vor mir sehe ich durch das winzige Fenster des Panzerfahrzeugs die hohen Ausleger der Kräne des Frachthafens. Das ist das Ziel unserer Reise und mein erstes Objekt in der Zone. Die Kolonne, bestehend aus vier Panzerfahrzeugen vom Typ BRDM, einem Feuerwehr–Leiterfahrzeug und zwei weiteren Löschfahrzeugen, hält auf einem sandigen Gelände vor den Kränen. Ich stelle die Leute auf. Major Paschuk erklärt uns die Aufgaben: Das Hafenareal samt der Kräne muß für die Aufnahme der für den Bau des Sarkophags benötigten Materialien vorbereitet werden. Auf dem Hafengelände steht ein riesiger gelber „KOMATSU“-Flachbagger. Wie ein Zwerg im Schatten eines Kolosses versteckt sich daneben ein „Belarus“-Traktor. Dahinter, in den Strahlen der Morgensonne, erstreckt sich der Fluß Pripjat – zusammen mit der, an dem gegenüberliegenden Ufer gelegenen, gleichnamigen modernen Stadt. Links, nicht weit entfernt, steht ein Schwimmkran...

Pripjat. Frachthafen

Wißt ihr, es fällt mir sehr schwer, alles, was ich damals dachte, was mich bewegte und wie ich handelte, jetzt in klare Worte und einheitliche Sätze zu fassen. Es sind bereits 20 Jahre vergangen, aber jede Sekunde die ich dort verbracht habe, jedes von mir gesagte Wort, ob es nun überlegt war oder nicht, beeinflussen auf irgendeine seltsame Weise mein Leben! Das sind nicht bloß schöne Worte – es ist eine Erfahrung, die einem Menschen wie ein Geschenk, das einem das Leben bereitet, überreicht wird.

Ich schaue mir die Fotos an. Alles befindet sich an den gleichen Stellen und in den gleichen Positionen; so, wie ich es damals, vor 20 Jahren, im Mai 1986 zuletzt sah. Selbst die am Greifer des Krans angebrachten Stahlseile... Seltsame, gemischte Empfindungen füllen meine Seele aus. Zum Beispiel dieser gewöhnliche Greifer, den es wahrscheinlich in jedem Fluß– oder Meereshafen gibt. Wie viele Erinnerungen und Emotionen weckt er jedoch in mir...

  • Der Greifer

Erinnerung 1

Pripjat. Frachthafen

Am Greifer des Krans hing ein Stahlseil mit einem an seinem Ende befestigten Haken. Seine Verwendung erschien mir irgendwie rätselhaft. Das Rätsel löste sich durch Serhij Smykalow, einem Kommandeur der 2. Einheit unserer Kompanie, schnell auf: Er fing damit an, eine Mauer aus Betonblöcken rundum aufzustellen – soweit der Ausleger des Hafenkrans reichte. Es gelang ihm jedoch nur die erste Reihe dieser jämmerlichen Kopie der chinesischen Mauer zu errichten! Ich mußte heute die von ihm angefangene Arbeit fortsetzen – um den Platz, um den herum das Gebüsch mit 2 bis 5 R/h strahlte, abzuschirmen. Die Gammastrahlung auf dem Gelände betrug etwa 0,5–1 R/h, wobei die obere Erdschicht durch den „Japaner“ 30 m weit in alle Richtung schon entfernt worden war. Und trotzdem war es für die Menschen sehr gefährlich, sich dort aufzuhalten. 5–6 Arbeitsstunden bedeuten 5–6 „frische“ Röntgen. 5 Tage, und... Lebe wohl, Dockarbeiter! Schicken Sie mir einen neuen!

 

  • Der Greifer

Erinnerung 2

Pripjat. Frachthafen

Ein paar Tage später dockte ein Schleppkahn mit einer Ladung Trockenbetongemisch an. Das Gemisch aus Zement, Sand und Kies schüttet man in einen Betonmischer und gibt einfach nur Wasser dazu – ein Paar Umdrehungen, und der Beton ist fertig! Irgendeiner aus dem Führungsstab entschied, daß die Betonmischer hier ein überflüssiger Luxus wären und es völlig ausreichen würde, das Gemisch einfach mit der Planierraupe zu verteilen und danach mit Wasser zu übergießen! Die Bautheoretiker träumten schon von einem Monolithen aus Beton bis vor die Ruinen des vierten Blocks; aber die Natur und die Strahlung machten dem einen Strich durch die Rechnung! Der Kranführer war in seinem Führerhäuschen sehr in Eile die Ladung abzuladen. Wie will man denn da ruhig bleiben, wenn es einem mit 3 R/h in den Hintern strahlt? Aus diesem Grund schnappte er mit dem Greifer nach einer Portion des Gemischs, drehte den Kran um und ließ es aus einer Höhe von 10–15 m einfach herunterfallen. Ein ziemlich starker Wind blies das Zementpulver und den Sand aus dem Gemisch heraus; zu Boden fielen dann praktisch nur reiner Kies und Schotter. Alles rundherum, inklusive mir, bekam eine graue Staubschicht – selbst die intimsten Stellen! Sogar an der wichtigsten und geschütztesten Stelle überhaupt: Unter meiner R3–Atemschutzmaske. Sie war für mich der einzige Schutz gegen die Strahlung. So verliert man das Vertrauen in die Menschen, die dir Schutz und Sicherheit versprechen. Dafür wachsen jetzt prächtige Tannenbäume im Untergrund aus Kies und Schotter!

Pripjat. Frachthafen

Auf einem anderen Foto schaue ich mir den Hafenkran an. Am ersten Tag kletterte ich einen der Kräne hoch und beobachtete, wie die Hubschrauber über dem zerstörten Reaktor ihre Einsätze flogen. Wie sie über der Bucht drehten, den havarierten Reaktor anflogen und ihre Last auf dem Müllhaufen (entschuldigt mir diesen Ausdruck, aber es sah wirklich aus wie ein Haufen diverser Bauabfälle) direkt über dem Reaktor abwarfen, nach links drehten und hinter dem Abluftkamin der ersten beiden Reaktorblöcke Richtung Tschornobyl verschwanden, um eine neue Ladung abzuholen.
Oder die Leiter auf dem nächsten Foto. Mit ihrer Hilfe mußten wir einen bewußtlosen Soldaten herunter befördern. Ich hatte ihn hochgeschickt, um das Führerhaus zu dekontaminieren. Wegen der Gefahr (und das bestätigte sich später auch), daß sich auf dem Dach „heiße Teilchen“ befinden könnten, befahl ich ihm, diese Arbeit mit Schutzanzug und Gasmaske auszuführen. Eine Stunde Arbeit unter solchen Bedingungen raubte dem erwachsenen Mann sämtliche Kräfte, und auf dem Weg zurück verlor er das Bewußtsein.

Pripjat. Frachthafen

Er hatte Glück, daß dies nicht auf der schmalen Leiter passierte (von der wir ihn mit zwei anderen Soldaten vorsichtig herunterholen mußten), sondern auf der Rundplattform oberhalb der Leiter. Wir gossen um die 2 Liter Schweiß aus jedem seiner Stiefel heraus. Aber Krieg ist Krieg und, seinem Mut und dem heldenhaften Einsatz (das ist nicht ironisch gemeint!) sei Dank, sank die Gammastrahlung im Führerhaus von 8 auf 2–3 R/h! So konnte jetzt der Kranführer doppelt so lange arbeiten.

Die vom Kran herunterhängenden Seile und Kabel hinterlassen bei mir einen deprimierenden Eindruck. Denn sie sind ein Zeugnis der menschlichen Niederträchtigkeit – die Spuren der Plünderer und Diebe. Die leere Kabeltrommel der Stromzuleitung für den Kran ist ebenso ein stummer Zeuge deren Tätigkeit. Dadurch kamen und werden noch weitere Menschen zu Schaden kommen, wenn dieser Schrott einfach weiterverwendet wird! Damals mußten wir mehrmals diesen merkwürdigen, strahlenden Fleck vom Betonuntergrund des Piers herunterwaschen. Er war im Durchmesser einige Zentimeter groß und strahlte – trotz all unserer Anstrengungen, diesen Dreck in den Fluß zu spülen. All unsere Versuche blieben erfolglos; bis wir nach oben schauten und feststellten, daß sich direkt über uns die Trommel, an der die dicken, eingefetteten Kranseile aufgerollt waren, befand. Eine Schaufel, die ich über die Sonde des Geigerzählers hielt, verringerte die Strahlung um zwei Drittel. Ein von mir nach dort oben gesandter Soldat teilte mir laut mit, daß die Trommel mit 10 R/h strahle! Es schien unmöglich, den Dreck aus dem Fett auszuwaschen und so ließen wir es aufgrund des Zeitmangels sein. Vielleicht fährt jetzt irgendwo ein nichtsahnender Mensch mit seinem Auto, in dessen Metall sich die strahlenden Brennstoffpartikel aus dem Unglücksreaktor verbergen, herum. Wegen der Gier mancher bezahlen andere mit dem Kostbarsten überhaupt – ihrer Gesundheit!

Pripjat. Frachthafen

Es ist traurig, anzuschauen, wie der Zahn der Zeit an allem nagt. Dieser halbversunkene Schwimmkran, die vermoderten Stege rund um die Piers oder dieser verrostete Schaltschrank, der die Stromzufuhr für die Kräne nach festgelegten Zeiten regelte. Die richtigen Stromleitungen waren noch gar nicht installiert; nur die aufgestellten Strommasten erinnern an dieses Vorhaben. Der Kranführer erzählte mir damals, daß der Hafen sich in der Anfangsbauphase befunden hatte und daß dieser halbversunkene Schwimmkran den Bau hätte voranbringen sollen. Der fertiggestellte Hafen hätte dann den Bau des 5. und 6. Blocks und den weiteren Ausbau der Stadt Pripjat gewährleisten sollen.

Auf dem gegenüberliegenden Ufer wurde schon ein Grundstück für den Bau eines neuen Viertels fertiggestellt. Damals standen wir mit dem Kranführer genau neben diesem verrosteten Schaltschrank. Er rauchte und erzählte mir über die zukünftigen Pläne. Ich hörte ihm zu und dachte, daß all das niemals stattfinden wird: Kein Hafen, keine neuen Blocks und schon gar nicht ein neues Viertel in Pripjat. Danach warf er seine Kippe ins Wasser, drehte den Schalthebel der Stromzufuhr um, zog sich die Atemschutzmaske über und kletterte in sein radioaktives Führerhaus hoch, um weitere Betonblöcke abzuladen oder das Betongemisch über den Platz zu verteilen...
Genau hier, auf diesen Holzbrettern stehend, las ich mehrmals den Brief meiner Frau, in dem sie mir mitteilte, daß sie ein Kind erwarte!
Dort, an dem Betonklotz, der weit in den Fluß hinausragt, angelte leidenschaftlich mein Chauffeur Serhij. Mir wurde streng befohlen die Fahrer zu schützen; deswegen ließ ich sie nicht an den Dekontaminationsarbeiten teilnehmen und stattdessen die Zeit in den Panzerfahrzeugen absitzen. Aber wie will man es, bei den Temperaturen, den ganzen Tag in einer Metallbox aushalten, wenn direkt daneben auch noch ein Fluß ist? Als Serhij, ein junger Bursche – 1985 von einem zweijährigen Einsatz aus Afghanistan zurückgekehrt, wo er als Fahrer eines gepanzerten Fahrzeugs bei den Aufklärern diente – mich um die Erlaubnis fragte, angeln zu dürfen, hatte ich nichts dagegen einzuwenden. Zudem war es die „sauberste“ Stelle in der ganzen Gegend – 15 mR/h. Es war wirklich amüsant, anzusehen, wie er, nachdem er einen Fisch aus dem Wasser zog, diesen erst sorgfältig von allen Seiten mit der Sonde des DP5–Geigerzählers untersuchte, danach den Kopf schüttelte und den Fisch wieder ins Wasser warf!

Pripjat. Frachthafen

Mit den Jahren werden wir alle wie dieser halbversunkene Schwimmkran sein: Wenn auch unsere Beine in dem Wasser des Alltags versunken sind und unser Leib, dem Alter entsprechend, rostige Töne angenommen hat, halten wir stolz den Kopf hoch, bis die Seile, die uns am Leben halten, reißen...

Nachdem ich alles nochmal durchgelesen habe, muß ich feststellen, daß es von dem, was ich mir ursprünglich gedacht hatte, stark abweicht. Die Story fehlt; dafür gibt es aber jede Menge Emotionen und Pathos! Eigentlich war es ganz anders geplant! Vor einem Monat teilte mir Yevgen Goncharenko (KRANZ) mit, daß er beim nächsten Ausflug nach Pripjat versuchen wolle, am Ufer entlang bis zum Frachthafen vorzudringen. Ich warnte ihn auf Grund der von mir dort gemachten Erfahrungen, weil die dreckigste Stelle, die ich in der Zone gesehen habe, genau dort zwischen dem Pier und dem Kran lag. Es war ein schmaler Streifen aus ganz gewöhnlichem Dreck am sandigen Ufer des Flusses. So ein Dreck entsteht, wenn der hohe Wasserstand im Sommer wieder zurückgeht und Äste, Heu und Laub zurückbleiben. Aber alles war zusätzlich mit schwarzem, von Isotopen durchtränktem Ruß bedeckt, der während des Reaktorbrands überall auf die Wasserfläche niederging und mit Hilfe des Winds und der Strömung genau an dieser Stelle landete. Die Strahlung dort betrug 115 R/h! Yevgen bedankte sich bei mir für die Vorwarnung. Er kam von der Reise zurück und ließ mir diese wunderschönen Fotos zukommen, die ich nun zwanghaft zu kommentieren versucht habe.

Entschuldigen Sie, KRANZ, vielleicht wird Ihre Reportage um einiges besser und vor allem nicht so finster. Und ein riesengroßes Dankeschön an Sie und an die Jungs von pripyat.com – ein Dankeschön für das, was Ihr tut. Ihr laßt die Vergangenheit nicht in Vergessenheit geraten. Damit die Menschen diese wunderschöne Gegend, die sie verlassen mußten, nicht vergessen. Damit es nie wieder verlassene Städte, abgerissene Dörfer oder vergessene Friedhöfe gibt!


 

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Die Sperrzone von Tschornobyl

Von Yevgen KRANZ Goncharenko

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