Lost Places - Sperrzone von Tschernobyl

Pripjat, Sperrzone von Tschernobyl und andere verlassene Orte

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AKW von Tschornobyl. Kontrollraum Nr. 4

AKW von Tschornobyl. Kontrollraum Nr. 4

AKW von Tschornobyl. Kontrollraum Nr. 4. Die Berührung mit der Geschichte

Es ist der erste Tag des Sommers, 7 Uhr morgens. Wir fahren in die Zone, zum AKW von Tschornobyl. Heute besuchen wir den Ort, an dem vor 20 Jahren die Geschichte unseres Landes und sogar die der ganzen Welt eine Wende nahm: Den Kontrollraum des vierten Reaktorblocks.

 

 

Wir befinden uns vor dem Eingang zum "ABK–1", dem Verwaltungsgebäude. (Ich werde versuchen, die Bedeutungen der diversen „atomaren“ Abkürzungen zu erklären, die anfangs einem die Verständigung schwer machen und gewisse Zweifel bezüglich der Sprache aufkommen lassen, in der sich diese seltsamen „Leute in Weiß“ unterhalten...)

AKW von Tschornobyl

Und hier empfängt uns Iryna Kowbitsch. Sie wird unsere „Reiseleiterin“ im AKW sein. Nach der Überprüfung aller Genehmigungen bekommen wir unsere Besucherausweise. Danach folgt der Metalldetektor und wir steigen die Treppe zur Umkleide hoch. Dort lassen wir unsere „Zivilkleidung“, Handys, etc. zurück. Es dürfen aufgrund der strengen Sicherheitsbestimmungen, die in der Sicherheitszone besonders hoch sind, nur Videokameras, Fotoausrüstung und Dosimeter mitgenommen werden. Wir ziehen weiße Kittel und Schutzschuhe an und betreten einen weiteren Raum. Dort bekommen wir eine Art Unterwäsche, Socken, Hosen, Sweatshirts, Mützen, Schuhe (ähnlich wie Turnschuhe, nur nur mit Klettverschluß statt Schnürsenkeln), Atemschutzmasken, Handschuhe und Plastiküberzüge für die Schuhe, um den Kontrollraum des vierten Blocks betreten zu können. Dort ist es zwar nicht so schmutzig wie im Sarkophag, aber, wie die Mitarbeiter sagen: „Man ist ziemlich nah dran“. Jetzt sind alle umgezogen und wir folgen Iryna durch einen verglasten Durchgang in die Sicherheitszone. Aufgrund der hohen Sicherheitsanforderungen darf nicht überall fotografiert werden; also werde ich vieles in Worten beschreiben müssen.

AKW von Tschornobyl. ABK-1 АКW von Tschornobyl АКW von Tschornobyl

Wir befinden uns in dem sogenannten „Goldenen Korridor“. Dieser führt durch das komplette Kraftwerksgebäude und ist über einen Kilometer lang. Den Namen bekam dieser Flur wegen der goldenen Färbung der Alupaneele, die in den 80ern modern waren. Von diesem Korridor aus kommt man zu allen Räumen der Sicherheitszone des Kraftwerks. Die Gammastrahlung beträgt hier bis zu 30 µR/h. An einigen Stellen sind es schon mal 300 µR/h, aber das übersteigt nicht die zulässigen Werte für das Kraftwerkpersonal. Nach dem Unfall, dort wo es im Korridor besonders „schmutzig“ war, hinterließen die Dosimetristen diverse Markierungen: z.B. “nicht herumstehen“ oder „schnell durchlaufen“. Viele der Mitarbeiter können sich noch ganz gut daran erinnern...

АКW von Tschornobyl АКW von Tschornobyl АКW von Tschornobyl. Kontrollraum-1

Der „Goldene Korridor“ geht nun in den „Bronzefarbenen“ über (diesen Namen haben wir uns aufgrund des Grünstichs der hiesigen Paneele selber ausgedacht), diesem folgen einfach geputzte und überstrichene Wände. Es ist nicht mehr weit... Wir werden noch einmal kontrolliert und bekommen, aus einem kleinen Fenster, jeder einen eigenen „dositech“-Dosimeter durchgereicht (die gleichen benutzt man hier bei den Arbeiten im Sarkophag). Nach ungefähr weiteren 20 Metern gelangen wir zum letzten Kontrollpunkt (System zur Strahlenüberwachung „Horbatsch“). Hier werden die Atemschutzmasken aufgesetzt und die Schuhe mit den Plastikhüllen überzogen. Wir gehen noch eine Weile den Korridor entlang...

АКW von Tschornobyl АКW von Tschornobyl АКW von Tschornobyl

Ein enger Durchgang, es geht nach rechts ab, ein paar Meter geradeaus... und wir sind da.

  • Der Kontrollraum des vierten Reaktorblocks.
АКW von Tschornobyl. Kontrollraum-4 АКW von Tschornobyl. Kontrollraum-4 АКW von Tschornobyl. Kontrollraum-4
АКW von Tschornobyl. Kontrollraum-4 АКW von Tschornobyl. Kontrollraum-4 АКW von Tschornobyl. Kontrollraum-4

Nun sind wir an dem Ort, an dem die Geschichte ihre Wende nahm. Ein Ort, über den es hunderte oder vielleicht sogar tausende Zeitungsartikel, wissenschaftliche Forschungsstudien, Bücher und sogar Gedichte und Lieder gibt. Über diesen Ort wurden einige Dokumentar- und Spielfilme gedreht. Es existieren unzählige Versionen zu dem, was hier vor 20 Jahren in der Nacht vom 25. zum 26. April geschah. Was fühle ich an diesem Ort, beim Anblick dieses finsteren, schwach beleuchteten Raums und den Überresten der alten Verkabelung entlang der Wände (nach dem Unfall wurden, mit immensen Anstrengungen, die Kontrollsysteme des zerstörten vierten Reaktorblocks von den Systemen des dritten, später wieder hochgefahrenen Blocks getrennt)? Oder bei diesem rötlichen Bodenbelag (die Einen sagen, die Farbe käme von den unzähligen Dekontaminationsversuchen oder einfach vom hohen Alter; die Anderen behaupten wiederum, die hohe Radioaktivität sei Schuld), den leeren Schächten der Steuereinheiten, dort, wo einst die Knöpfe und Lampen plaziert waren (die komplette Elektronik wurde nach der Dekontamination ausgebaut und in anderen, funktionierenden Reaktoren verwendet), dieses Plastikfilms, womit alles, was sich hier im Raum befindet, zum Schutz vor radioaktivem Staub überzogen ist? Ich fühle die 20 Jahre... Wieviel diese 20 Jahre für ein Menschenleben bedeuten... Und wie wenig für langlebige Radionuklide... Der Wert der Gammastrahlung beträgt 2 mR/h, die Flußdichte der Betateilchen um die 5000 Zerfälle pro Minute und Quadratzentimeter (in den umliegenden Wäldern und Dörfern ist die Strahlung teilweise wesentlich höher). Hier liegt sie jedoch innerhalb der zulässigen Grenzwerte. Wieviele Liquidatoren haben ihre Gesundheit oder sogar ihr Leben geopfert, damit man diesen Raum betreten kann, ohne dabei Angst haben zu müssen, an der Strahlenkrankheit zu erkranken? Ich fühle die Traurigkeit und den Schmerz der Menschen, die ihre Heimat verloren haben und in eine fremde Umgebung umgesiedelt worden sind. Und ihre Krankheiten, die, aufgrund einer unglaublichen Sturheit der Mediziner, vorsätzlich nicht als Folgen der Katastrophe anerkannt werden. Die Liquidatoren, die, mit anderen Worten gesagt, die Welt gerettet haben und jetzt ihren Regierungen nur Kopfschmerzen bereiten und als unnütze Last angesehen werden. Die Hoffnungslosigkeit der Beschäftigten, die mit ansehen müssen, wie ihr Kraftwerk, dessen Existenz solch einen hohen Preis gefordert hat, verkommt, und sie nun selbst ihren eigenen Arbeitsplatz abbauen müssen; nur weil irgendeiner entschieden hat, daß es so für alle das Beste sei. Ich fühle, wie die Natur der Polessje, so paradox es auch klingt, sich durch die größte von Menschen verursachte Katastrophe von der zerstörerischen menschlichen Last befreit und die dadurch entstandene Zone fast schon in eine Art Naturparadies verwandelt hat. Rechts hinter der Wand war ein Raum, den man später zubetoniert und dadurch zu einem Teil der Wand des Sarkophags gemacht hat. Dahinter befinden sich die Überreste der Hauptkühlmittelpumpen und das, was vom Reaktor übergeblieben ist... Iryna zeigt auf die Uhr – wir müssen zurückgehen. Am Kontrollpunkt entsorgen wir unsere Handschuhe, Atemschutzmasken und die Schuhüberzieher in den dafür vorgesehenen Container, reichen unsere Dosimeter durch das kleine Fenster und machen uns auf den Weg entlang des goldenen Korridors zum Kontrollraum des Reaktorblocks Nr. 1.

АКW von Tschornobyl. Kontrollraum-1 АКW von Tschornobyl. Kontrollraum-1 АКW von Tschornobyl. Kontrollraum-1

Obwohl das Atomkraftwerk abgeschaltet wurde, hat das Personal noch viel zu tun. Ein AKW außer Betrieb zu nehmen und zu demontieren ist ein langwieriger und komplizierter Prozeß, der einige Jahrzehnte andauern kann. Viele Gerätschaften sind bereits mit „Außer Betrieb“-Aufklebern versehen. Wir verlassen den Kontrollraum des ersten Blocks und gehen zum Maschinenraum: Einem kilometerlangen Gebäude, in dem die Turbinen, angetrieben durch den Dampf aus den Reaktoren, den Strom erzeugen. Die Turbinen des vierten Blocks befinden sich im hinteren Bereich und sind vom Rest des Gebäudes mit einer Betonmauer abgetrennt.

АКW von Tschornobyl АКW von Tschornobyl АКW von Tschornobyl
АКW von Tschornobyl АКW von Tschornobyl

Wir verlassen die Sicherheitszone, ziehen uns wieder „zivil“ an, geben unsere Besucherausweise ab und verabschieden uns von Iryna. Der Besuch des AKW von Tschornobyl ist nun zu Ende. Draußen holen wir aus dem Kofferraum unserer Autos die Brote, die wir extra in Tschornobyl gekauft haben, und gehen zum Kühlkanal, um dort die Welse damit zu füttern. Diesmal haben wir Glück: zwei 2,5 Meter große Riesenwelse tauchen wie U–Boote aus der Tiefe auf. Die vier Brote sind für sie nur eine Zwischenmalzeit... Wir versuchen, Fotos zu schießen. Es ist nicht einfach: Das Wasser reflektiert zu stark und die Größe der Fische kommt nicht zum Ausdruck.

АКW von Tschornobyl АКW von Tschornobyl

Bevor wir uns auf den Weg zum linken (östlichen) Ufer des Flusses Pripjat, in das Gebiet der sogenannten „Nördlichen Spur“, machen, umfahren wir das Kraftwerk und besichtigen den Besucherpavillon des Sarkophags. Außer den einmaligen Fotoaufnahmen aus dem Inneren des Objekts, gibt es hier ein mindestens genau so einmaliges und einzigartiges Anschauungsmodell der Schutzhülle. Auf dem Foto rechts sieht man die Lage des Kontrollraums des vierten Reaktorblocks. Die Miniaturfiguren markieren die Stellen, zu denen die Forscher schon vorgedrungen sind.

Wir verlassen das Kraftwerkgelände und kehren nach Tschornobyl zurück. Nach einem Mittagessen in der Kantine von Tschornobyl Interinform fahren wir zum linken Ufer des Flusses Pripjat.

Die Fortsetzung folgt in der Reportage „Die Nördliche Spur“.

Für die Organisation und die Durchführung der Besichtigung des AKW von Tschornobyl möchte ich mich bei folgenden Personen herzlich bedanken:

O. Syrota (www.pripyat.com), O. Nowikow und I. Kowbitsch (AKW Tschornobyl), J. Tatartschuk (Tschornobyl Interinform), A. Kupnyj (vom Portal „Slavutitsch City“) und dem Technischen Berater A. Fatachow (AKW Tschornobyl).


 

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Die Sperrzone von Tschornobyl

Von Yevgen KRANZ Goncharenko

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