Lost Places - Sperrzone von Tschernobyl

Pripjat, Sperrzone von Tschernobyl und andere verlassene Orte

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Die westliche Spur

Die westliche Spur

Region Schytomyr, Kreis Narodytschi.

 

Basar, Welyki Minky, Welyki Klischtschy, Rohy, Ljubarka, Losnyzja, Mali Klischtschy, Schyscheliwka, Swisdal.

 

 

Swisdal... Alles fing aufgrund dieses märchenhaften Namens eines von mir auf der Karte entdeckten kleinen Dorfs in Polissia an. Die langen Wintermonate und der unbeständige Frühling... In meinem Kopf drehte sich dieser zauberhafte Name. Unser nächstes Ziel war für mich klar; wir mußten nur auf gutes Wetter warten.

Die westliche Spur

Auf der Straßenkarte der Ukraine findet man hunderte Dörfer die „Nowosilky“, „Kalyniwka“, „Tarasiwka“ oder „Ukrajinka“ heißen. Swisdal gibt es jedoch nur einmal.

Und nun ist es 11 Uhr morgens am 1. Mai 2006. Von Kyjiw aus geht es Richtung Westen auf der Landsraße M–07 „Kyjiw – Kowel“ bis Baraniwka. Wir fahren nach „Swisdal“!

Dorf Basar

Wir verlassen die Landstraße. Nach 26 km sind wir in der Zone der Zwangsumsiedlung. Die Gamma-Ortsdosisleistung beträgt hier 40 µR/h. Trotz der Warnschilder merkt man im Dorf „Basar“ nicht viel von einer „Zwangsumsiedlung“. Einige Häuser wurden verlassen; ansonsten macht das Dorf jedoch einen ziemlich lebendigen Eindruck. Neben einem Lebensmittelgeschäft „feiern“ die Menschen den 1. Mai :). Wir fragen eine junge Frau mit einem Kind nach dem Weg zu dem Dorf „Welyki Minky“. Sie zuckt mit den Schultern: „Ich kenne den Weg nicht, dort fahren wir nicht hin. Fragen Sie jemand älteres...“ Auf der Suche nach einem „Älteren“ fuhren wir durch das ganze Dorf bis zur Kreuzung. Das Gefühl sagte uns, daß wir geradeaus fahren müssen.

Eine kurze geschichtliche Information:
Das Dorf Basar nimmt in der Geschichte der Ukraine einen besonders traurigen Platz ein. Am 22. November 1921 wurden hier von der Roten Armee, unter dem Kommando von G. Kotowskij, 359 gefangene Soldaten der Ukrainischen Volksarmee hingerichtet.

Zur Zeit gibt es im Dorf ca. 70 bewohnte Häuser. Die Gammastrahlung beträgt hier 40–60 µR/h.

Wir fahren 5 km auf einem schmalen, aber asphaltierten Weg direkt zum nächsten Dorf. Unser Gefühl hat uns nicht im Stich gelassen – es ist das Dorf Welyki Minky. Laut einer älteren Frau, die mit ihrem Mann direkt an der Einfahrt zum Dorf wohnt, gibt es hier drei bewohnte Häuser. Sie ist mit ihrem Leben zufrieden. Hier gibt es Strom und die Lebensmittel werden einmal wöchentlich angeliefert. Dazu hat man einen eigenen Hof mit Garten, den Hühnern und einer Katze.

Welyki Minki Welyki Minki Welyki Minki

Die örtliche Geburtshilfe-Station. Auf der anderen Straßenseite befindet sich das Kulturhaus.

Welyki Minki Welyki Minki Welyki Minki
Welyki Minki Welyki Minki Welyki Minki

In den leerstehenden Häusern sind sogar die gemauerten Öfen abgebaut worden. Anscheinend hat man außer den Gußtüren auch die feuerfesten Ziegelsteine mitgenommen. Fast alle Dächer sind nicht mehr gedeckt. Die Bedachungen „strahlen“ jetzt in den bewohnten Nachbardörfern.

Welyki Minki

 

Der Karte nach müssen wir uns an dieser Kreuzung links halten. Wir verlassen das Dorf. Die asphaltierte Straße geht in einen mit frischem grünem Gras bewachsenen Feldweg über. Die Natur ist hier einfach wunderschön... Halt! Der Weg endet vor einer zerstörten Brücke, die über den Fluß Swisdal führte. Wir kehren zurück in das Dorf und versuchen in Richtung Rudnja-Ososchnja durchzukommen.

 

Welyki Minki Welyki Minki Welyki Minki
Welyki Minki Welyki Minki

Es gelingt uns hier zwar, über den Fluß zu kommen - aber wir bleiben im Sand stecken! In dieser Gegend hat man keinen Handyempfang; es gibt niemanden, den man zu Hilfe holen kann. So bleibt uns nicht anderes übrig, als selber Hand anzulegen. Wir kriechen unter das Auto und versuchen, es freizubuddeln. Auf dem Weg beträgt die Strahlung um die 50 µR/h, ein paar Meter daneben 100 µR/h. Wir buddeln und tun so, als ob wir nicht atmeten :). Nun haben wir das Auto freigegraben! Natascha sitzt am Steuer und ich bin dabei, zu schieben. Es scheint zu klappen! Nein, doch nicht; so kommen wir nicht weit. Wir müssen unsere Route ändern und einen Umweg machen. Wir kehren nach Basar zurück und nehmen den Weg Richtung Naroditschi. Der nächste Halt ist das Dorf Welyki Klischtschy.

Nachdem wir uns ein wenig im Dorf umgeschaut hatten, wurde mir die Bedeutung des Namens schnell klar: „Klischi“, übersetzt aus dem Ukrainischen, bedeutet „Zecken“. Von diesen Insekten gab es dort wirklich jede Menge :).

Welyki Klischi Welyki Klischi Welyki Klischi

Der zentrale Platz des Dorfs. Einige Läden, das Kulturhaus, die Kirche. Die Ortsdosisleistung schwankt hier zwischen 50 und 170 µR/h. Eine alte Frau soll die einzige Bewohnerin des Dorfs sein. Wir wissen auch gar nicht, wo sie wohnt - sondern nur, daß sie sich über ungeladene Gäste nicht gerade freuen soll.

Welyki Klischi Welyki Klischi Welyki Klischi

Der nächste Halt ist das Dorf Rohy. Hier lebt ganz bestimmt niemand mehr; die Mehrzahl der Häuser ist zerstört. Die Gammastrahlung im Dorf beträgt 40–80 µR/h.

Rogi Rogi Rogi
Rogi Rogi Rogi

Abgesehen von einigen kurzen Stops durchfahren wir zügig Ljubarka und Losnyzja. Soweit ich weiß, gibt es in beiden Dörfern nur ganz wenige bewohnte Häuser. Die Strahlung liegt hier bei 40–70 µR/h.

Ljubarka Losniza

Hinter Losnyzja fahren wir auf einen wunderschönen, von einem Moor umgebenen Waldweg ab. Nach etwa 5 km passieren wir das Dorf Mali Klischtschy.

Mali Klischi Mali Klischi Mali Klischi

Da ist auch schon der Kontrollpunkt! Dort unterziehen wir uns allen nötigen „Prozeduren“. Der Polizeibeamte rät uns zum vorsichtigen Umgang mit Feuer und öffnet die Schranke. Nun sind wir in der Sperrzone. Die Gammastrahlung beträgt hier 60–90 µR/h.

Mali Klischi Mali Klischi Schischeliwka

Wir fahren etwa 8 km auf einem zauberhaft schönen Waldweg mit einer völlig kaputten Asphaltdecke. Wir sind in Schischeliwka. Im Dorf herrscht absolute Stille. Die Abendsonne taucht dieses kleine Dorf in Polissia in ein warmes, gelbes Licht. Es fühlt sich an, als ob das Licht aus den leeren Fenstern der verlassenen Häuser hinunterfließt und die zugewucherten Straßen entlang strömt. Die Gammastrahlung liegt hier bei 70–100 µR/h.

Swisdal

Wir verlassen das Dorf und kommen nach ca. einem Kilometer an eine Kreuzung. Rechts geht es Richtung Mali Minky, links nach... Swisdal!
Vor uns befindet sich eine Gedenktafel mit einer so gut wie unlesbaren Schrift: „An diesem Ort wurde von der Roten Armee im Herbst 1921 eine große Gruppe weißer Banditen zerschlagen.“

Das ist der tragische Schauplatz – hier wurden 900 Kämpfer der Ukrainischen Volksarmee unter dem Kommando von General J. Tjutjunnyk eingekesselt.

400 von ihnen kamen bei den Kämpfen um; der Rest wurde 5 Tage später im Dorf Basar hingerichtet.

Die gefallenen Soldaten der Volksarmee wurden von den Dorfbewohnern in einem Massengrab im Wald beerdigt. Die Gräber wurden von ihnen, trotz sowjetischer Repressionen, bis ins Jahr 2001 gepflegt. Später wurden die Überreste in einer Gedenkstätte in Basar erneut beigesetzt.

Wir haben das Ziel unserer Reise erreicht – das Dorf mit dem märchenhaften Namen „Swisdal“. Ab hier gibt es keine befahrbare Straße mehr und wir müssen zu Fuß weitergehen...

Swisdal Swisdal Swisdal

Der zentrale Teil des Dorfs: Die Bushaltestelle, das Kulturhaus, die Kantine, die Reste der Propagandastände, ein Denkmal der im Zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten. Besonders bewegend sehen die Gestelle der Kinoapparate im örtlichen Kulturhaus und die auf dem Boden verteilten Zeitschriften der 80er Jahre mit den Abbildungen der muskulösen Arbeiter auf den Titelseiten aus.

Grüß dich, Swisdal – ein kleines Dorf in Polissia, eines der toten Dörfer der Sperrzone. Auf einigen Karten wird der Name mit blasser, grauer Schrift gedruckt, auf anderen schreibt man ihn in Klammern.
Jegliche Versuche, weitere Informationen über das Dorf Swisdal herauszufinden, brachten mich anfangs nur immer wieder zu der Geschichte über die Niederlage der Ukrainischen Volksarmee und zu kurzen Mitteilungen über die „erfolgreichen Kämpfe“ an der Westfront im Zweiten Weltkrieg zurück.

Erst nach der Veröffentlichung dieses Artikels bekam die Geschichte von Swisdal eine Fortsetzung: Die Enkelin des damals Dorfältesten Maxym Romanowytsch Lytwynenko trat mit mir in Kontakt. In den 30er Jahren wurde er als „Wohlhabender“ enteignet und arbeitete danach als Förster. Sein geräumiges Anwesen wurde zum Kulturhaus umgestaltet. Während des Zweiten Weltkriegs war er der Dorfälteste. Nach dem Krieg kam er als politisch Gefangener in ein Lager. In den 50er Jahren kehrte er ins Dorf zurück und machte sofort bei den Sowjets auf sich aufmerksam, imdem er ein Kreuz über den Gräbern der Kosaken der Ukrainischen Volksarmee errichtete. Danach verschwand Maxym Romanowytsch spurlos... Alle Versuche, sein Schicksal aufzuklären oder Informationen beim sowjetischen KGB (oder später beim russischen FSB) zu erhalten, scheiterten. Und leider konnte auch ich keine weiteren Informationen über M. R. Lytwynenko bekommen. Jedoch sagt mir mein Gefühl, daß der alte Kosake, aufgrund seiner Liebe zur Freiheit, im Wald bei den Partisanen der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) sein Ende fand…

Swisdal Swisdal Swisdal
Swisdal

Hier leben die beiden Einheimischen Nadja (auf dem Foto) und Petro. Beide sind 1925 hier geboren und verbrachten ihr ganzes Leben ebenfalls hier. Womit sie soweit ganz zufrieden sind... Eine Kuh, ein Pferd, mehrere Hühner, sowie eine Imkerei und ein großer Garten zählen zu ihrem Hab und Gut. Vor einiger Zeit gab es sogar Elektrizität – dann wurden die Stromleitungen entwendet. Die Lebensmittel werden nicht angeliefert; um das Brot zu holen, muß man zu Fuß zum nächsten Dorf Mali Klischtschy gehen. Das Leben in der Zone der Entfremdung ist oft nicht einfach und manchmal sogar gefährlich. Es sind nicht die Radionuklide (an deren Existenz die beiden sowieso nicht glauben), die eine Gefahr darstellen. Vor etwa 5 Jahren bekamen sie Besuch von mehreren Verbrechern, die sie quälten und folterten. Sie suchten nach Gold und nahmen die ganzen Ersparnisse der beiden Rentner mit. Oft kommen auch Leute in den Wald, um illegal zu jagen. Solche „Jagden“ enden öfters mit Waldbränden... Der Versuch, den beiden etwas Geld dazulassen, bewirkte eine große Empörung ihrerseits: „Wozu brauchen wir das Geld? Wir haben Geld!“ Darauf kramt Oma Nadja aus einer kleinen, alten Geldbörse stolz 2 Grivna (ca. 0,4 US$) heraus. Um der unangenehmen Situation zu entkommen, holen wir einige Medikamente aus unserer Reiseapotheke und beschriften sie mit „Kopf“ und „Bauch“ :). Als Gegenleistung bringt Nadja einen Teller voller Honig aus eigener Produktion. Der Versuch, den Teller dazulassen, scheiterte erfolglos. „Von solchen Tellern habe ich ungefähr einhundert“ verkündete stolz die Oma. So nahmen wir ihn einfach mit. Laut dem alten Ehepaar lebt noch eine weitere Familie im Dorf...

Die Ortsdosisleistung im Dorf beträgt um die 50–80 µR/h, im Wald, direkt nebenan, um die 200 µR/h.

Mali Klischi

Wir verabschieden uns von Nadja und Petro. Die Sonne steht tief am Horizont und wir wollen noch bis zum Einbruch der Dunkelheit die Straße Kyjiw – Kowel erreichen.

Auf Wiedersehen, Polissia! Wir nehmen dein goldenes, warmes Licht der untergehenden Sonne, dein Vogelgezwitscher und das Rauschen des kleinen Flusses mit dem so märchenhaft klingenden Namen „Swisdal“, der uns ebenso verzaubert wie der nächtliche August-Himmel, nach Hause mit.

 

 

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Die Sperrzone von Tschornobyl

Von Yevgen KRANZ Goncharenko

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