Am 26.Dezember um 7 Uhr morgens geht es von unserem Hotel aus zum Bergdorf Iitate.
Der Name dieses Dorfes ist nach dem Unfall im Fukushima-Daiichi AKW zum am zweithäufigsten in japanischen und ausländischen Massenmedien genannten Namen nach Fukushima-Daiichi geworden. Trotz der Entfernung von 40km zum havarierten AKW, befindet sich Iitate mitten in der nordwestlichen Falloutspur. Die Werte der radioaktiven Belastung in Iitate unterscheiden sich nicht wesentlich von den Werten der Orte innerhalb der evakuierten 20 km Sperrzone.
Iitate (飯舘村)
Das Dorf Iitate; Region Soma, Präfektur Fukushima. Die Einwohnerzahl – 6149 Menschen (Stand 1. Juni 2010). Das Dorf grenzt an die Städte Soma, Minamisoma, Date und an die Siedlungen Namie, Kawamata. Die Entfernung zum havarierten AKW beträgt etwa 40 km.
Das Dorf Iitate besteht, wie es in Japan üblich ist, aus 18 kleinen über die Abakuma Bergregion (阿武隈高地) verstreuten Dörfchen. Leider hatten wir während der Sowjetzeit in der Ukraine alle kleinen Ortschaften, Dörfer und Einzelhöfe verloren – alles wurde zu einem großen Haufen vereint und alles andere hinter der Grenze des „Haufens“ hat aufgehört zu existieren. Zum Glück bedeutet das Zusammenfügen der Siedlungen in Japan nicht gleichzeitig die Auflösung der einzelnen ursprünglichen Dörfer. Sie bleiben wie kleine Oasen der Schönheit mitten in der wundervollen japanischen Landschaft bestehen. Sie tragen lediglich ab einem bestimmten Jahr (im Falle von Iitate seit 1956) einen neuen, gemeinsamen Namen.
Iitate entstand aus der Zusammenlegung von zwei Dörfern – Iiso (飯曽村) und Otate (大舘村) im Jahre 1956. Der Name des neu entstandenen Dorfes wurde aus beiden ursprünglichen Namen kreiert. Später, im Jahre 1967, kam noch ein Dorf hinzu – Ishibashi (石橋村). Um die Frage, wieviele Dörfer Iitate mittlerweile vereint, zu beantworten, müssten mindestens 18 ursprüngliche Dörfer (Usuishi, wo wir auf dem Weg nach Minamisoma einen Halt machten, ist eines davon) aufgezählt werden die seit dem Beginn der Aktion im Jahre 1889 zusammengelegt wurden.
Anscheinend hatte die Dorfgemeinde diese Zusammenlegungen eines Tages satt. Eigentlich war geplant Iitate mit Minamisoma zu vereinen, aber in 2004 trat Iitate aus dem Rat für Vereinigungungen aus und führt seit dem eine eigene Politik.
Nach weniger als eine Stunde Fahrt kommen wir im Zentrum von Iitate an. Neben dem Rathaus parken ein paar Autos. Jemand von den ehemaligen Bewohnern ist um seine Verwandten zu besuchen her gekommen. Zum heutigen Zeitpunkt zählt Iitate 13 Einwohner (laut Veröffentlichung in Asahi Shimbun).
Es geht weiter zum Viertel Iitoi und zur örtlichen Schule.
Direkt nach der Katastrophe im AKW Fukushima Daiichi wurden in IItate 1200 evakuierte Flüchtlinge aus der 20 km Sperrzone rund um das Kraftwerk aufgenommen. Jedoch ergaben die dosimetrischen Messungen der ersten Tage kein zufriedenstellendes Resultat. Unter der Berücksichtigung der hier gemessenen Ortsdosisleistung, würde die Dosis der Bewohner von Iitate zwischen 20 und 40 mSv im Jahr liegen (die zulässige Dosis in den meisten Ländern liegt bei 1 mSv im Jahr). Am 30. März wendet sich die internationale Atomaufsichtsbehörde an die japanische Regierung mit der Empfehlung die Sperrzone um das havarierte AKW zu vergrößern um Iitate mit einzuschließen. Am 22. April bittet die japanische Regierung die Bewohner das Dorf schnellstmöglich zu verlassen. Am 15. Mai beginnt in Iitate die planmäßige Evakuierung. Anfang Juni waren noch 1500 Menschen im Dorf. Am 22. Juni verließen Iitate etwa 90% der Einwohner. Im August waren noch 120 Menschen verblieben. Im Januar 2012 liegt die Einwohnerzahl von Iitate bei 13 – es sind alles ältere Menschen die sich geweigert haben ihren Heimatort zu verlassen.
Da Iitate nicht mit in die Sperrzone einbezogen wurde und die Evakuierung auf freiwilliger Basis geschah, werden die verbliebenen Bewohner von den Behörden geduldet. Der Bürgermeister von Iitate, Norio Kanno (菅野典雄), setzte sich gegen den Druck der Behörden und deren örtlichen Vertreter (die ihm beleidigende Briefe schrieben) für die Interessen der Alten ein. Er verkündete dass der durch die Evakuierung verursachte Stress viel schädlicher für die alten Menschen sei als die Gesundheitsgefährdung durch die erhöhte Strahlung. Norio Kanno wusste wovon er sprach – seine Mutter verstarb während der Evakuierung. Zu dem hatte der älteste Dorfbewohner kurz vor der Evakuierung im hohen Alter von 102 Jahren Suizid begangen. Solche Vorfälle waren während der Evakuierung der Städte und Dörfer in Fukushima keine Seltenheit.
„Das schönste Dorf Japans“
Das schönste Dorf in Japan – diese Auszeichnung bekam Iitate in 2010 nicht nur für die schöne Landschaft, sondern in erster Linie für die Architektur, das Design und das Umweltbewusstsein. Durch die Umsetzung verschiedener Projekte des symbiotischen Wohnstils des 21. Jahrhunderts wurde Iitate zu einer Art Musterdorf. Der Ort wurde in die offizielle Tour des japanischen Ministeriums für Umweltschutz aufgenommen, um der Öffentlichkeit die Muster des ökologisch-symbiotischen Wohnens vorzustellen.
Die Schule an der wir eben ankommen, wurde auf den japanischen Architekturseiten als Musterschule des 21.Jahrhnderts erwähnt.
Die Dosisleistung auf dem Schulgelände schwankt zwischen 2 und 4 uSv/h. Am stärksten ist die Erde unter den Regenrinnen belastet – bis zu 10 uSv/h.
„Die Kraft des Madei“ までいの力
Ich kann einfach nicht aufhören mich über die Willenskraft der Japaner zu wundern. Kurz vor der Evakuierung des bereits radioaktiv belasteten Dorfes schafften es die Bewohner ein Fotoalbum mit Fotos von Iitate zu entwerfen und zu drucken, um das Dorf in seiner „alten“ Schönheit in Erinnerung zu behalten. Das Fotoalbum heißt: „Die Kraft des Madei“. までいの力.
Nach der Havarie im AKW Fukushima Daiichi und dem Beschluss der Evakuierung kam ein TEPCO Vertreter nach Iitate um sich vor den Bewohnern zu entschuldigen. Einige Dorfbewohner konnten ihre Aggressionen nicht zurückhalten, jedoch hat die Mehrzahl der Menschen sie gebeten es gut sein zu lassen um das Dorf nicht in ein negatives Licht zu rücken. Viele Journalisten wunderten sich über eine solche Einstellung der Dorfbewohner bis der Bürgermeister Norio Kanno sie aufklärte:
- Wir haben alle die Madei Mentalität. Wir leben Madei.
selbst für einen Japaner aus dem Nachbarsdorf keine leichte Aufgabe. “Madei“ – ist ein Wort aus dem hiesigen Dialekt, welches die über Jahrhunderte entstandene Lebenseinstellung der Bewohner widerspiegelt. Wortwörtlich lässt es sich mit „mit beiden Händen“ übersetzen. Es hat jedoch einen durchaus tieferen Sinn: leben mit Würde, gelassen und ohne Stress, mit Respekt gegenüber Mitmenschen und Umwelt, und wenn du etwas angefangen hast, packe es mit beiden Händen an – so ist es sicherer.
Als letzter noch verbliebener Bewohner des menschenleeren Dorfes beantwortet der Bürgermeister Norio Kanno die Frage des Journalisten von Mainichi Dayli News über die schweren Zeiten die sein Dorf durchmachen muss:
- „Was soll ich mit meinem Frust machen? Ich werde ihn hier aufbrauchen, damit wir alle wenigstens einen Tag früher zurückkehren können.“
Auf dem Rückweg, fast am Ortsausgangsschild des Dorfes, treffen wir einen örtlichen Dekontaminierungstrupp und unterhalten uns mit deren Anführer Kazuki Takashima.
- Die Arbeit ist kinderleicht. Selbst ein Kind könnte sie machen. Sie ist sehr einfach.
- Aber warum räumen sie den Schnee? Er schirmt die Strahlung ab und verhindert die Staubbildung.
-„Der Rasen muss entfernt und in Säcke geparkt werden.“ Kazuki Takashima zeigt uns die Sammelstelle in der Ecke des Parkplatzes, vollgepackt mit schwarzen Plastiksäcken (die Dosisleistung beträgt etwa 20uSv/h). –„Wie sollen wir den Rasen entfernen, wenn er unter dem Schnee ist?“
Eine solche Vorgehensweise bei der Dekontaminierung kann ich nur schwer nachvollziehen. Wenn es nach mir ginge, wäre es sinnvoller bis zum Frühling abzuwarten und dann wenn der Schnee auftaut, den Rasen zu entfernen. Aber ein richtiger Japaner wird nicht da sitzen und warten. Und wenn sein Ziel die Dekontaminierung des eigenen Dorfes ist, kann ihn kein Schnee aufhalten.
Am 16.Dezember 2011 hat die Gemeindeverwaltung von Iitate den „Plan der Rettung des Dorfes" vorgestellt.
„Wenn wir uns keine klaren Ziele zur Dekontamination des Dorfes setzen, werden wir keine Möglichkeit haben zurückzukehren" - sagte Bürgermeister Norio Kanno. - "Unsere vorrangige Hauptaufgabe ist die Jahresdosis auf 5 mSv mittels Dekontamination zu reduzieren. Unser Ziel ist spätestens in zwei Jahren mit dem Prozess der Rücksiedlung unserer Bewohner anzufangen und in fünf Jahren mit ihr abzuschließen. “ Eigentlich wollte das Dorf die Werte bis auf 1 mSv reduzieren, doch die Bewohner bleiben realistisch, deswegen ist erst mal von 5 mSv die Rede. Der Plan beinhaltet einige weitere Maßnahmen: Dekontaminierung der privaten Grundstücke während der ersten zwei Jahre und der umliegenden Bauernfelder im Laufe der nächsten fünf Jahre sowie die Organisation eines unabhängigen Strahlenlabors für Messungen der Landwirtschaftserzeugnisse und einen Ganzkörperzähler.
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