Von der Stadt Iwaki bis zur Stadt Minamisoma sind es ca. 80 km, wenn man entlang der Küste durch die 20 km evakuierte Sperrzone um das AKW Fukushima-Daiichi fährt. Wir haben keine Erlaubnis die Sperrzone zu befahren und müssen einen Umweg von 180 km in Kauf nehmen. Um 5 Uhr morgens am 25. Dezember 2011 verlassen wir Iwaki und fahren in Richtung Minamisoma.
Um 6 Uhr morgens wird es langsam hell, es lassen sich die Umrisse der Siedlungen aus dem Fenster unseres Minivans erkennen. Langsam steigen auch die Ortsdosisleistung von 0,6 über 1 uSv/h bis auf 2 uSv/h.
Wir machen einen Halt in Usuishi (臼石村, wortwörtlich – „Fuß aus Stein“), einem Ortsteil des Dorfes Iitate (飯舘村). Das ist unser erster verlassener Ort in Japan, der Anblick an die mit Schnee bedeckten leeren Straßen wird noch lange in meiner Erinnerung bleiben. Ich habe zig verlassene Dörfer in der Sperrzone von Tschernobyl gesehen, doch sie wurden vor langer Zeit verlassen und sind jetzt ein Teil der Natur geworden. Jegliche Verbindung zu den Menschen ist verloren gegangen. Hier in Japan spürt man deutlich die Anwesenheit des Menschen, was einen sehr beschäftigt.
Ein Dorf in den Bergen, 42 km vom AKW Fukushima-Daiichi entfernt, befindet sich mitten in der nordöstlichen Fallout Spur und wurde Ende April 2011 evakuiert.
Die Ortsdosisleistung im Dorf beträgt etwa 5 uSv/h, stellenweise bis zu 10 uSv/h.
Wir setzen unsere Fahrt nach Minamisoma fort. Die Straße führt runter ins Thal. Die Ortsdosisleistung sinkt auf 1,5 uSv/h. Um 8:30 sind wir in der Stadt. Aus den verschneiten Bergen landen wir im warmen sonnigen Herbst.
Minamisoma (南相馬市)
Die Stadt Minamisoma befindet sich in dem nordwestlichen Teil der Präfektur Fukushima, Region Tohoku. Nach der modernen japanischen Tradition existiert Minamisoma als Stadt erst seit der Eingemeindung der Dörfer Haramachi (原町市), Odaka (小高町) und Kashima (鹿島町). Die Nachbarorte von Minamisoma sind die Stadt Soma (相馬市), und beide Siedlungen Namie (浪江町) und der Dörfer Iitate (飯舘村). Die Entfernung von Minamisoma bis zum AKW Fukushima-Daiichi beträgt 23 km.
Stand 11. März 2011 hatte die Stadt 71561 Einwohner, 80% wurden evakuiert. Später sind viele zurückgekehrt. Meistens die ältere Generation, Erwachsene, aber ohne Kinder. Jetzt lebt in Minamisoma ungefähr die Hälfte der ursprünglichen Bevölkerung. Laut der Information der städtischen Internetpräsenz vom 16.Februar 2011 leben in der Stadt 45439 Einwohner, ca. 64% der ursprünglichen Bevölkerung. Der Stadtteil Odaka (ehemals Stadt Odaka) befindet sich in der 20km Sperrzone und wurde komplett evakuiert. In Kashima, einem am weitesten vom AKW Fukushima-Daiichi entfernten Stadtteil leben zur Zeit 13746 Menschen (es waren ursprünglich 11603, die Einwohnerzahl ist also gestiegen), in Haramachi – 31963 (ursprünglich 47116, die Einwohnerzahl ist gesunken).
Minamisoma wurde durch den Tsunami am 11.März 2011 schwer beschädigt. Stand 9.April waren 400 Opfer zu beklagen, 1100 Einwohner galten als vermisst.
Um 9 Uhr morgens kommen wir zur geheiligten Stätte von Soma Ota (相馬太田神社), hier haben wir uns mit einem ehrenamtlichen Mitglied von Safecast Kenro Okumura verabredet.
Die Ortsdosisleistung beträgt etwa 1 uSv/h.
Die geheiligte Stätte von Soma Ota ist ein historischer Ort und verdient eine separate Geschichte.
An diesem Ort fand im Jahre 937 nach Christus die große Schlacht der Samurai Stämme statt. Als Erinnerung wird hier jährlich bereits seit 1075 Jahren ein Samurai Ritterfest Soma Namaoi (相馬野馬追) – ein Fest der Soma-Wildpferde gefeiert. Die Feier findet am letzten Samstag, Sonntag und Montag im Juli statt. Es ist ein Mix aus religiöser Zeremonie, militärischer Übung und sozialen Tätigkeiten. Mehr als 600 Ritter, die Nachkommen der verschiedenen Samurai Stämme, veranstalten hier ein umfangreiches Rennen über die Felder von Haramachi. Alles wird von den Flammen der unzähligen Lagerfeuer beleuchtet. Am Morgen des ersten Tages beginnt das Festival mit dem Gebet des jetzigen Oberhauptes und 33.Nachfolgers des Soma Stammes Kazatune Soma. Begleitet wird er von anderen Samurai, die in voller Ausrüstung die Fahnen ihrer Vorfahren hochhalten. Eine wichtige Rolle bei dem Festival spielen die geheiligten Stätten von Minamisoma Soma Ota und Odaka und die Grabstelle von Nakamura in Soma. Diese drei geheiligten Stätten organisieren das Festival bereits seit Jahrhunderten.
Nun kehren wir aus dem tiefsten Mittelalter in die Gegenwart zurück.
Safecast – ist ein internationales Projekt zur Überwachung der Ortsdosisleistung. Es besteht aus einer kleiner Gruppe von Koordinatoren und einer großen Zahl ehrenamtlicher Dosimetristen. Theoretisch kann jeder ein freiwilliger Dosimetrist von Safecast werden.
Kenro Okumura ist solcher Dosimetrist in Minamisoma. Safecast hat ihn nicht übel ausgestattet: Szintillationsspürgerät „BNC Model SAM 940 Defender/Revealer Isotope Identification with Reachback Program“ und ein GPS Tracker Etrex von Garmin, sowie ein Inspector Alert von International Medcom, Inc. Jeden Tag packt er sein Equipment in seinen Quad und misst in den Bergen und Tälern die Ortsdosisleistung. Kenro Okumura - ein gewöhnlicher Farmer, der 21 km vom AKW Fukushima-Daiichi gelebt hat, ist jetzt ein freiwilliger Dosimetrist geworden.
Kenro Okumura hat mich zur Sitzung des örtlichen Rates zur Folgenbekämpfung des Unfalls eingeladen. Vor ein paar Tagen hat das japanische Umweltschutzministerium ihre Empfehlungen zur Dekontaminierung und Organisation der zeitweiligen Sammelstellen für radioaktive Abfälle in Präfektur Fukushima veröffentlicht.
Nach der Ratssitzung fahren wir zusammen mit Kenro Okumura und seinem Kollegen Ara Teruo um Messungen vorzunehmen. Der Wert der Orstdosisleistung beträgt hier etwa 5 uSv/h.
Hinter den Bergen erstreckt sich die evakuierte 20 km Sperrzone. Auf dem mittleren Foto sieht man das Kohlekraftwerk Haramachi, das Tohoku Electric Powr Co. Gehört. Das Kraftwerk wurde infolge des Tsunami sehr stark beschädigt. Selbst ein Schiff mit 75 000 Tonnen Kohle an Bord wurde durch den Tsunami vom Hafen des Kraftwerks 100 m auf den Ufer gespült. Die Aufräumarbeiten am Kohlekraftwerk wurden wegen der Evakuierung der Einwohner von Minamisoma vorübergehend beendet. Die Kraftwerkbetreiber hoffen den Betrieb im Sommer 2013 wiederaufnehmen zu können.
Ein Kontrollpunkt an der Grenze der 20km evakuierten Zone. Die Straße # 34. Die Ortsdosisleistung beträgt hier etwa 1,5 uSv/h. Es fällt mir schwer zu glauben, dass es hier keinerlei Einrichtungen zur Strahlenüberwachung gibt!
An den kleineren Straßen die in die Zone führen gibt es keine Kontrollpunkte. Eine halbhohe Absperrung und die Warnschilder ist alles was man dort vorfindet. Die Straße # 49. Die Ortsdosisleistung etwa 12 uSv/h.
Es war etwas unerwartet und angenehm zu gleich, unser „Pripjat“ Baujahr 1991 in den Händen des hiesigen freiwilligen Dosimetristen Ara Teruo zu sehen.
In den vielen Jahren gewöhnte ich mich an die typische Umgebung der Sperrzone von Tschernobyl. Ich gewöhnte mich an die ruhige Natur des Polessje, die Sümpfe, die hohen Wiesen, an die Flüsse Usch und Pripjat, sowie an Hasen, Wölfe, Füchse und Wildschweine... Und natürlich an das Piepsen des Dosimeters. Hier ist bis auf die Radioaktivität alles anders. Das gleiche Piepsen des Dosimeters, jedoch umgeben von einer ganz anderen Natur und Tierwelt. Die Berge und die Bergflüsse, die Bambusstauden und... die Affen, die uns aus der sicheren Entfernung neugierig beobachten.
Wir verabschieden uns von Kenro Okumura und Ara Teruo und kehren nach Minamisoma zurück. Uns steht noch das Einchecken in ein japanisches Mittelklassehotel mit winzigen Zimmern, die eher an den Schlafwagen eines Zuges erinnern, ein Mittagessen in einem klassischen japanischen Restaurant, wo man am Eingang die Schuhe auszieht und sich an einen niedrigen Tisch auf den Boden setzt, und das nähere Kennenlernen der Stadt Minamisoma und ihren Einwohnern bevor.
Minamisoma kämpft (南相馬市). Präfektur Fukushima. Der vierte Tag< Zurück | Weiter >Iwaki (いわき市). Präfektur Fukushima. Dritter Tag |
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