Ich war seit dem Sommeranfang nicht mehr in Pripjat und verspürte schon ein wenig Sehnsucht nach der Stadt. Den ganzen Sommer waren wir mit Natascha in der Zone unterwegs, aber für Pripjat blieb irgendwie nie richtig Zeit über... Und so zögerte ich nicht lang, als Sascha Sirota mich eine Woche vor der Reise anrief und sagte - „lass uns nach Pripjat fahren“, und stimmte zu.
Pripjat, 17. September 2006
Solange die Redakteure von pripyat.com den amerikanischen Gästen die Stadt zeigen, setzten wir uns mit Kolja Kolomijez die Schutzbrillen und Atemschutzmasken auf und machen uns zum westlichen Stadtteil auf dem Weg. Genau dieser Stadtteil nahm damals am 26.04.1986 als erstes die ganze Wucht der Katastrophe auf sich.
Dieser Stadtteil wird den Gästen nicht gezeigt... Dort gibt es aus der Sicht eines Standart- Touristen oder Journalisten, der auf der Suche nach den „Horrorszenarien aus Tschernobyl“ unterwegs ist, eigentlich nicht viel zu sehen. Keine CCCP-Wappen, keine Puppen und ebenso keine Gasmasken... Dafür gibt es dort ein unpassierbaren Dschungel und eine Ortsdosisleistung über 2 mR/St... Wir erkunden heute das Gebiet, das nicht nur in Pripjat als am stärksten kontaminiert gilt , sondern auch in der gesamten Sperrzone von Tschernobyl... Die Radiometer werden auf den höheren Messbereich umgestellt und es geht los in Richtung Ognew Strasse. Die Rettungsstation in Pripjat. Egal aus welcher Perspektive ich versuchte diesen verrosteten Schild zu fotografieren, so bekam ich die Aufschrift nie ganz in das Objektiv (ihr könnt es überprüfen, da steht tatsächlich „Rettungsstation“ drauf). Die Pilze... Ich glaube mit diesem Wort könnte man unsere komplette Expedition in das westliche Stadtteil von Pripjat beschreiben... Unmengen von so gut wie jeder in diesen Breitengraden vorkommenden Pilzsorte. Von riesigen Steinpilzen bis zu den bildhübschen Fliegenpilzen war alles vertreten. Man konnte überhaupt nicht rumlaufen, ohne das man auf irgendein Pilz trat...Solche Bilder hatte ich nur in Kinderbüchern gesehen, wo die Pilze immer im Überfluss aus der Erde wuchsen... Hier scheint so etwas auch in der Realität zu geben... Die Strahlung sinkt vor Ort nicht unter 2 mR/St.
Wir machen ein Bogen nach links und der Pfad führt uns zu einer halbversunkenen Schwimmrampe – einem zweiten Anlegeplatz in Pripjat (man sagt, sie wurde noch ein ganzes Jahr nach der Katastrophe benutzt).
Auf der Schwimmrampe und daneben ist es überraschenderweise relativ sauber – die Umgebungsstrahlung liegt hier bei 50 mkR/St. Hier legen wir eine kurze Pause ein und nehmen die Atemschutzmasken ab. Das Wasser ist glatt wie ein Spiegel... Umgeben von Schilf herrscht hier die absolute Ruhe. Es scheint so, als ob die Schwimmrampe nicht halb versunken ist, sondern sich langsam im trüben Wasser auflöst. In der Ferne erblickt man die Kästen der Wohnblocks von Pripjat. Wir verlassen die Rampe und wandern am Ufer entlang weiter. Das ist das Hotel „Lastoschka“ (Schwalbe)... Interessant ist auch die Tatsache, dass wir laut Karte auf der Ognew Strasse sind, aber auf dem Hotelgebäude ein Schild mit einer anderen Strassenbezeichnung (Nabereschna Str.) hängt. Und zwar ohne die Hausnummer :).
Ein zweistöckiges Gebäude. Ein Hangar für das Rettungsboot. Auf den Wänden sind noch die Markierungen der Dosimetristen erhalten: 30 mR/St, 25 mR/St, 10mR/St... Heutzutage ist hier die Strahlung um einiges gesunken: Draussen sind es noch 1-2 mR/St, drinnen ca. 100 mkR/St.
Der Hof des ehemaligen Kurhauses von Pripjat. Kolja zieht an meinem Ärmel – „hör mal“! Das akustische Signal unserer Geigerzähler ändert die Tonlage. 3 mR/St.
Nach dem kurzen „Aufenthalt“ im Kurhaus kehren wir zur Ognew Strasse zurück und gehen zu den Garagen. Geht man hinter dem Kurhaus am Ufer entlang weiter, so erreicht man nach ca. 50 Meter einen sog. „Plutoniumfleck“ der „nördlichen Spur“.
Wir sind bei den Garagen. Ich habe viel Positives darüber gehört: sie seien warm, geräumig und bequem. Naja, nicht wie in allen anderen Städten eben. Ich kann darüber nicht urteilen. Um das zu können, muss man wahrscheinlich ein erfahrener sowjetischer Autoliebhaber sein :) Die Gamma- Ortsdosisleistung liegt hier bei etwa 2 – 5 mR/St.
Wir kommen zurück zur Strasse und wandern weiter in Richtung Pripjat´s Friedhof. Bis zum Sarkophag sind es von hier ca. 2,5 km. Wir befinden uns jetzt im Zentrum einer „Gabel“ von der „nördlichen“ und „westlichen“ Spur. Der Geigerzähler pfeift unermüdlich in meiner Jackentasche: 2-3 mR/St. Hier ist auch schon der Friedhof... Im Vergleich zu anderen Friedhöfen in Polessje, mit ihren einzigartigen Holzkreuzen, geschmückt mit handgearbeiteten Strickereien, wirkt der Friedhof von Pripjat mit seinen polierten Edelstahlobelisken und der bunten Grabumzäunung, ein wenig öde und geschmacklos. Erneut ändert sich die Tonlage unserer Geigerzähler: 6 – 7 – 8,5 mR/St. Man sagt, dass es hier Stellen mit den Strahlenwerten bis zu 20 mR/St gibt, doch sie zu finden ist nicht das Ziel unserer heutigen Reise, und so geben wir uns auch mit 8,5 mR/St zufrieden. Bei unserer Runde über den Friedhof verscheuchen wir unabsichtlich irgendein Lebewesen im dichten Unterholz und nehmen den Weg zurück nach Pripjat..
Wir tauchen in dichtes Gehölz ein, mit dem Ziel zur „Strasse der Völkerfreundschaft“ vorzudringen. Im Gestrüpp wird ein akkurates Häuschen aus Ziegelstein sichtbar - eines von den insgesamt vier Häusern die für höhergestellte Beamten der AKW- und Stadtverwaltung vorgesehen waren. Leider geht es hier nicht weiter – eine richtige Wand aus Akazien und Nussstrauch versperrt uns den Weg… Hier kommen wir nicht durch. Wir kehren um und gehen zurück. Am Rande des Gestrüpps entlang, kommen wir zu Pripjat´s Zahnklinik .Direkt gegenüber, auf der anderen Strassenseite befindet sich… die Freiluftdiskothek! Genau sie löste in mir die Erinnerungen, die warmen Wellen der Nostalgie aus. Ich stand wie verzaubert im Zentrum der Tanzfläche und versuchte mich zu erinnern was hier in 1986 gespielt wurde…Die Namen der Bands und den Sänger verschmolzen in meinem Kopf zu einer formlosen Masse mit dem Namen „Ottawan“… Die ehemaligen Bewohner erzählen jedoch, dass die Open Air Tanzfläche nach dem Eröffnen der legendären „Edison“ Diskothek an Popularität verlor und sich zunehmend zu einem Treffpunkt der ersten Skateboardfahrer in Pripjat verwandelte.
Wir verlassen die Tanzfläche und gehen in nördliche Richtung. Die Dosisleistung sinkt langsam bis zu 200 – 400 mkR/St. Und nun sind wir auf dem Hof der Werkstätten. Bereits nach dem Reaktorunglück befand sich hier eine Reparaturwerkstatt von „Komplex“, eines in der Zone arbeitenden Betriebs. Jetzt ist die Werkstatt verlassen, der Boden ist mit aus dem Kontrollraum des Blocks 4 mir bekanntem Plastikfilm bedeckt. Darauf liegt jede Menge Computerschrott. Mein Funkgerät gibt ein Lebenszeichen von sich: Es ist Max. Sie sind mit der Führung der amerikanischen Gäste fertig und erwarten uns an der Schule # 1.
Wir gehen an dem Hockeyplatz und dem Sportklub „Stroitel“ (Erbauer) - dem ehemals wichtigsten Sportzentrum in Pripjat vorbei. Da ist auch schon die „Strasse der Völkerfreundschaft“. Der Geigerzähler zeigt irgendetwas bei 50 mkR/St. Wir nehmen die Masken und Schutzbrillen ab. Per Funk melde ich unsere Rückkehr. Wir sind wieder da… Wir sind Zuhause.
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