Diese Reportage beinhaltet keine sensationellen Entdeckungen und Messbereichüberschreitungen meines Radiometers. Dafür gibt es vor dem Winter ruhende Natur, schweigsame Überreste einer Stadt und den stillen Fluss Pripjat.
Ich hatte ursprünglich nicht vor, von dem Ausflug in die Zone am 25.November 2006 zu berichten. Wir sind hingefahren, um Pripjat zu besuchen und um ziellos in ihrer Gegend herumzuwandern. Auf diese Weise wollten wir dem Alltagsstress entkommen. Dann aber kam schnell und unerwartet der Jahreswechsel, ich hatte beruflich viel zu tun und so wurde dieser Ausflug zum letzten im Jahre 2006. Als ich mir meine unzähligen Fotos anschaute und an diese Reise dachte, erinnerte ich mich mehr und mehr an eine Zusammenfassung, eine Art Jahresabschluss für das vergangene Jahr. Diese Reportage beinhaltet keine sensationellen Entdeckungen und Messbereichüberschreitungen meines Radiometers. Dafür gibt es vor dem Winter ruhende Natur, schweigsame Überreste einer Stadt und den stillen Fluss Pripjat.
- Ein altes Objekt aus Stahlbeton
Einer von unseren Jungs sah kurz vor der Kreuzung „Pripjat -Yaniv“, etwa 50 m vom linken Strassenrand einen seltsamen, mit Moos bewachsenen „Pilz“ aus Stahlbeton... Ein Bunker! Wir steigen zügig aus dem Auto aus. Anfangs schaue ich misstrauisch auf das verwelkte Grass (an dieser Stelle stand einst der berühmte „Rote Wald“), dann setzten wir die Atemschutzmasken auf und gehen los... Die Dosis der Gammastrahlung von 400 mkR/St nehmen wir gerade so in Kauf, über alles andere wollen wir erst gar nicht nachdenken : ) Wir kommen näher... Nein, es ist doch kein Bunker... Es ähnelt einem Betonbrunnen mit doppelten Wänden. Die Aussenwand ist ca. 30cm und die Innenwand ca. 20 cm dick. Oben drauf sitzt wie auf einer Zuckerdose ein halbrunder Betondeckel, der mit einigen 30 cm grossen Öffnungen versehen ist. Beide Wände sind von der Strassenseite aus wie mit einem Artilleriegeschoss durchbohrt. Ich klettere hinein. Der Brunnen ist etwa 5 m tief und bis zur Hälfte mit Sand zugeschüttet. Unten auf dem Boden liegt eine Menge Unrat. Über das Alter und die Verwendung des Objekts lässt es sich nur rätseln. Das Beton ist sichtlich von schlechter Qualität und bröckelt bereits an vielen Stellen, so dass die Bewehrung zum Vorschein kommt. Wahrscheinlich diente das Objekt einem ganz gewöhnlichen, alltäglichen Zweck. Es bleibt jedoch bis auf weiteres ein Rätsel. Viele der ehemaligen Bewohnern von Pripjat behaupten, dass in dieser Gegend echte „deutsche“ Bunker aus der Zeit des zweiten Weltkrieges gibt.
- Der Fluss Pripjat
Wir lassen das Auto an der Kreuzung der „Bauarbeiter-“ und der „Helden von Stalingrad“ Strasse stehen und gehen zum Fluss. Der asphaltierte Weg geht zu Ende und wir gehen entlang der Kette von halbverrotteten Holzmasten – die Reste eines als ersten um Pripjat errichteten Schutzzauns.
Wir kommen zum alten Flusslauf von Semihody. Gut, dass wir an Schutzbrillen gedacht haben, denn ohne sie wäre es in dichten Gebüsch entlang des Ufers mit Sicherheit nicht einfach. Es fällt sofort auf – die Gegend ist bei den Bibern ein beliebtes Plätzchen. Angesicht der frischen Spuren, waren sie erst vor kurzer Zeit hier. Es kann sogar sein, dass die sich jetzt irgendwo nicht weit von hier verstecken... Vom einen neulich umgestürzten Baum führt ein richtiger Pfad zum Wasser :)
Das Ufer ist mit hässlichen, verschieden grossen Metallboxen übersäht – die Bewohner von Pripjat bewahrten dort diverse Bootsutensilien.
Über einen künstlich angelegten Damm erreichen wir das andere Ufer vom Flusslauf.
Wir befinden im Gebiet der „nördlichen Spur“. Die Ortdosisleistung steigt zügig bis auf 2mR/St. Wir lassen die Stadt irgendwo hinter uns und wandern zum Fluss einen schmalen Pfad entlang, der wie ein Messer in das goldene hohe trockene Gras schneidet.
Nun sind wir am Ufer angekommen. Die Gammastrahlendosisleistung sinkt rasch auf 100 mkR/St. Wir nehmen die Atemschutzmasken ab und setzte uns auf die Ufersteine... Geschafft... Heute ist ein ruhiger windstiller Tag. Die kahlen Bäume erwarten den Schnee, doch er scheint sich nicht besonders zu beeilen. Selbst der Fluss scheint eingeschlafen zu sein, und nur sein Pflichtbewusstsein treibt ihn voran, sein tiefes Wasser langsam in den Dnjepr strömen zu lassen.
- Pripjats Polizei- und Feuerwehrwache
Wir kehren in die Stadt zurück. Die „Strasse der Bauarbeiter“, um ihren Namen getreu zu bleiben, empfängt uns mit nicht fertiggestellten Gebäuden und einem umgestürzten Kran :)
Sollen wir vielleicht die Polizeiwache von Pripjat besichtigen? So oft ich die Stadt schon besucht habe, aber auf der Wache war ich noch nie. Es ist das gleiche, als wenn man in Ägypten war und die Sphinx nicht gesehen hätte :). Die Touristen mögen diesen Ort, um sich in den dunklen Zellen der Wache zu fürchten :). Es ist wirklich beeindruckend. Ich hoffe, dass ich keine Gelegenheit bekommen werde, um in den Genuss aller Vorteile solcher Einrichtungen zu kommen. Durch den Flur gelangen wir in ein winzigen Innenhof, wo die Sträflinge sich an der frischen Lüft aufhalten durften – ein Betonkasten mit einem rostigen Gitter anstelle des Daches. Der „Kasten“ ist voll mit diversen Fahrzeugteilen. Altöl bedeckt gleichmässig den Boden. Die Teile wurden offensichtlich von kontaminierten Fahrzeugen demontiert, da die Strahlung hier bis auf 300 mkR/St ansteigt.
Ein Tor führt uns aus dem „Kasten“ auf ein grossen Hof, chaotisch vollgestellt mit halbdemontierten Fahrzeugen aller Art: Lastwagen, Autokräne, Bagger. Bei vielen sind noch die für die Zone typischen Kennzeichen erhalten. Auf allen Türen findet man die lakonische "ЗОНА" (Zone) Aufschrift in weisser Farbe wieder. Selbstverständlich mache ich Bilder von einem der fotogensten BRDM Panzerfahrzeuge in der Zone.
Nach dem Spaziergang auf dem Hof der Polizeiwache besuchen wir die direkt nebenan liegende Feuerwehrwache.
- Epilog
Es ist spät abends. Wir stehen im Zentrum der sich langsam im Nebel und Dämmerung auflösenden Pripjat, von allen Seiten mit leeren Kästen der Häuser umgeben. Die richtige Zeit um sich gegenseitig mit Geschichten über Geister und wilde Raubtiere, die hier angeblich gesehen wurden, die Nerven zu kitzeln... Aber stattdessen kreisen meine Gedanken um den stillen, verschlafenen Fluss, ein von Wildschweinpfaden gemustertes und mit der Krone aus hohen goldenen Gräsern geschmücktes Feld, um ein kleines Eichenhain und um die scheuen Biber, die wir nun leider nicht gesehen haben.
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